"Man Hazel! Auf was für Schnapsideen kommst du eigentlich?"
Eve schenkte sich einen kräftigen Schluck Prosecco ins Sektglas ein. Es war Teil unseres gemütlichen Wochenrituals. Wir, das heißt Eve, Pierre und ich zusammen mit Pralinen, Sekt und unsere Lieblings-TV-Sendung "Sex and the City". Nun mag der eine oder andere sagen, dass die Serie "Sex and the City" schon seit langer Zeit out ist, aber wir sahen die Serie ja auch nur nebenbei. Eigentlich war es mehr unser Abend, an dem wir uns bewusst zusammen setzten und gemütlich über die Geschehnisse der Woche plauderten.
Und heute hatte ich von meinem Erlebnis mit Mike erzählt. Ich hatte meinen beiden WG-Genossen von diesem seltsamen Abend erzählt, bei dem Mike mich fast geküsst hätte. Bzw. es eben nicht getan hatte. Mich aber letzten Ende komplett damit verwirrt hatte. Seit diesem Abend wusste ich nicht mehr was ich denken sollte.
"Wenn ich es dir sage, Eve: er war ganz nahe an meinem Mund. Er hatte mein Kinn zwischen seinen Händen und den Blick fest auf mich gerichtet! Der wollte mich küssen."
"So ein Blödsinn." brummelte Eve in sich hinein. "Da brauchst du dir gar nichts drauf einzubilden."
Pierre hatte sich auf dem Boden auf den Rücken gelegt und seinen Kopf auf meinen Schoß drapiert. Während er sein Glas in der Hand schwenkte und der flüssigen Bewegung folgte sagte er schwärmerisch:
"Also wenn ICH in dieser Situation gewesen wäre, ich hätte Mike überzeugt mir in mein Schlafzimmer zu folgen."
"Mike ist doch nicht schwul!" rief Eve aus.
"Vielleicht wäre er es am nächste Morgen gewesen." Pierre zwinkerte mit dem Auge. "Also ich würde ihn defintiv nicht von der Bettkante schubsen."
"PIERRE!"
Mein Gefühl (und auch meine Ohren) sagten mir, dass sich hier wohl ein Interessenkonflikt anbahnte. Vielleicht war es nicht so klug von mir gewesen, die Sache mit Mike anzusprechen. Eve war im Moment ein wenig kratzig, weil sie schon wieder von "der großen Liebe" abgewiesen worden war. Ich habe aufgehört die Verflossenen zu zählen. Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich tatsächlich alle erfassen würde. Zwischen der Schwärmerei in der Uni und dem Ausheulen am Abend konnten bestimmt noch zwei oder drei dazwischen liegen. Ok das war nun etwas hart ausgedrückt, aber ich stelle euch ja nur meine subjektive Wahrnehmung meiner Umgebung dar.
Jedenfalls hatte ich trotz unseres "Sex and the City"-Abends nicht das Gefühl, großartig die Situation für mich geklärt zu haben. Angeschickert und immer noch verwirrt lag ich schließlich in meinem Bett. Versuchte irgendwie die Gedanken zu ordnen.
Was hatte Mike mit dieser Aktion bezwecken wollen? Wollte er mich tatsächlich küssen? Wenn ja, warum?
1.) Mike hegt geheime Gefühle für mich.
Abgelehnt. Mike ist definitiv nicht der Typ, der wenn er Gefühl hätte, sie verbergen würde. Gefühle sind gleich Sex für ihn. Und Sex habe kann und will er immer. Davon bin ich überzeugt.
2.) Mike wollte eine "Zwischenmahlzeit"
Die Idee kam schon eher ran. Aber letztlich verwarf ich auch diesen Gedanken. Mike ist an sich kein schlechter Kerl. Er wüsste genau, dass er mich damit verletzen könnte. Dies widerrum könnte unser gutes Verhältnis in der WG-Gemeinschaft zerstören.
3.) Mike ... ist einfach ein Mysterium.
Ich seufzte. Na super. Jetzt befand ich mich mit meiner Analyse wieder am Anfang. Vielleicht musste ich einfach die Sichtweise verändern. Eventuell würde mich das weiter bringen?
Was verspricht sich Hazel von seiner Aktion?
1.) Sie hätte gerne einen festen Freund.
Hmm na ja. Frauen wollen immer einen festen Freund haben. Einen Mann an ihrer Seite an den sie sich schmiegen und ausheulen kann. Der sie versteht und so. Bla bla. Tatsache war: ich bin seit gut einem Jahr Single. Und es gefällt mir. Keine Verpflichtungen. Man muss sich nicht rechtfertigen. Und den Mann, bei dem ich mich ausheulen kann habe ich ja im Hause: Pierre. Was also soll ich mit einem neuen Freund? Außerdem wäre Mike gar nicht der Typ für eine feste Beziehung.
2.) Sie hätte gerne wieder Sex.
Ähm ja kann schon sein. Spießer-Sarah ist halt nicht so für's masturbieren. Auch wenn Eve anderer Meinung ist und ihr jedes Jahr zum Geburtstag irgendwelche Sexspielzeuge schenkt. Aber der kleine lila Delfin mit Bananengeschmack-Überzug ist nicht so ganz das, was sich Sarah unter "besinnliche Stunden" vorstellt. Seit der letzten Party, wo ich das Walross in meinem Bett gefunden hatte, hat sich auch der verlockende Gedanke von One-Night-Stands irgendwie verflüchtigt.
3.) Aber Mike ist ein Sexgott!
Ja ok das Argument ist gut. Ich meine ich sehe ihn ja regelmäßig ... nackt ... irgendwie ...sich einen Kaffee holen ... oder so. Und ja er sieht umwerfend aus, wenn er sein weißes Badehandtuch mit den gelben Quietscheenten darauf um die Hüfte geschlungen hat. Ja und mein Gott ich bekomme dabei halt ein feuchtes Höschen aber ... es ist Mike!
Mike, mein WG-Mitbewohner.
Mike, mein Kumpel, der genauso wie ich erstmal einen Kaffee braucht um den Tag zu starten.
Mike, der sich bei anstehenden Prüfungen immer mit mir hinsetzt und für die Klausuren paukt.
Mike, der ständig mit irgendwelchen Bitches durch unsere Wohnung läuft.
Und bis zu dieser "fast-beinah-Kuss-Szene" war für mich alles ok und klar! Ich war glücklich so wie unsere WG funktionierte. Wollte ich daran etwas ändern? Wollte ich es wirklich für ALLE ändern? Denn angenommen ich hätte etwas mit Mike, wäre vielleicht sogar offiziell mit ihm zusammen: die WG wäre nie wieder so, wie sie vorher war.
Ich tat schließlich das, was ich immer tat, wenn ich gedanklich mit irgendetwas abschließen möchte: ich schrieb einen "Verbrennunwiderkehrbares an sich. Du kannst es nicht nochmal durchstreichen, weg radieren oder mit Tipp-Ex korrigieren. Es ist gebannt für alle Lebenszeit. So hatte ich unter anderem vor gut zwei Jahren endlich geschafft mit dem Rauchen aufgehört.
Also nahm ich eines meiner gelben Post-its und überlegte. Ich überlegte lange. Das Schwierige an der ganzen Geschichte ist eigentlich nur, den absoluten Satz zu schreiben. Ein Satz wie "Wenn die Sonne scheint werde ich zukünftig vielleicht joggen gehen." ist nichts wert. Zuviele "was wäre wenn"-Situaionen, zuviele äußere Einflüsse. Zuviele Hintertüren.
Ich lief auf und ab. Schließlich fand ich den Satz, den ich auf das Papier bringen konnte:
"Kein Sex mit WG-Mitbewohnern!"
Ja, der Satz war es! So war die Sache rund. Nun nur noch das Ritual. Ich nahm meine "Verbrenn mich Zettel"-Spezialschale (eine einfache grüne Schale aus Keramik von IKEA, sie wird aber für absolut nichts anderes benutzt) und legte das Papier zusammengefaltet auf den verrusten Schalenboden. Dann nahm ich ein "Verbrenn mich Zettel"-Streichholz (von irgendeiner Party mal abgestaubt) und beobachtete, wie der Zettel sich langsam in Asche verwandelte.
Es war ein gutes Gefühl. Ich war stolz auf mich!
Plötzlich klingelte mein Handy. Eine SMS. Ich nahm mein Handy vom Bett und las die Nachricht. Ungläubig blickte ich vom Handy auf und sah zur Schale rüber. Dann wieder auf das Handy.
Scheiße, dachte ich mir. Warf das Handy auf das Bett. Hob das Handy direkt wieder auf und las die Nachricht erneut. Prüfte die Rufnummer.
Kein Zweifel: sie war von Mike.
"Hi Hazel. Denkst du an mich?"
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